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Architecture Matters 2024
Crisis versus Crisis

München gilt international als Hauptstadt der Bau- und Immobilienbranche. Mit der Immobilienmesse Expo Real und der Baufachmesse Bau wird die bayerische Landeshauptstadt alljährlich zum globalen Marktplatz über die materielle Zukunft und die Verteilung unserer materiellen Welt. Zunächst im Windschatten der Global Stake Holders hat sich seit 2016 ein internationales Kongressformat in München etabliert, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Qualität von Architektur und Städtebau zu verbessern, indem die unterschiedlichsten Akteure miteinander in den persönlichen Diskurs treten: Architecture Matters!

 

Beirut versus München – wann ist eine Krise eine Krise?

Am 15. und 16. Mai tagte der Kongress im 2022 fertiggestellten House of Communications des iCampus im Münchner Werksviertel. Das Ambiente mit der zweigeschossigen 130 Meter langen Foyerhalle und angeschlossenen Seminarräumen bildete den idealen räumlichen Rahmen für einen zwanglosen intensiven Austausch. Die intensiven Schwarz-Weiß-Fotos des russischen Fotojournalisten und Kriegsfotografen Sergey Ponomarev vom zerstörten Libanon bespielten die zahlreichen wandgroßen Bildschirme in der gesamten Halle. Der Libanon als Vorbild pulsierenden Lebens trotz Dauerkrise und abenteuerlicher staatlicher Finanzpolitik? Neben den permanent hier ausgestellten Ölgemälden von Anselm Kiefer sowie den Skulpturen von Tony Cragg und Stephan Balkenhol wirken Ponomarevs Aufnahmen, als würden sie zum permanenten Kunstfundus des Hauses gehören. Vor allem aber stimmten sie die Teilnehmerinnen mit erschütternder Aktualität auf das diesjährige Motto des Kongresses ein: Crisis versus Crisis. Wie lassen sich Krisen bewältigen, ohne neue Krisen damit auszulösen?

Raus aus der Krise – nur gemeinsam?

Baukrise, Immobilienkrise, Digitalkrise, Energiekrise, Klimakrise, Ukrainekrise, Nahostkrise … Das Kongressprogramm schlug einen großen Bogen von den parteipolitischen Spielregeln bundesdeutscher Baupolitik über Lösungsstrategien zum nachhaltigen Bauen in Indien. Von den immer häufiger verübten Hackerangriffen auf die Datenstruktur von Behörden und Firmen bis zu Vereinfachungsprozessen bei der digitalen Planung und Potenzialen von KI. Welche Themen beschäftigen die Stadtplaner? Was muss sich ändern, damit Investoren angesichts hoher Zinsen und Baupreise wieder in Wohnungsbau investieren? Wo gibt es international vorbildliche Ansätze und Best Practice-Beispiele für Kreislaufwirtschaft beim Bau auch großer Projekte?

„Wir wollen, dass sich in diesen eineinhalb Tagen etwas bewegt, dass jeder, der an der Konferenz teilgenommen hat, mit neuer Inspiration die wichtigen Aufgaben in Angriff nimmt und vielleicht besser mit seinen Partnern und anderen Berufsgruppen zusammenarbeitet“,  lautete die Botschaft von Nadin Heinich, Gründerin von plan A  und Erfinderin von Architecture Matters.  Gemeinsam mit Jan Friedrich, Bauwelt, moderierte sie die Keynotes, bevor sich die 250 Teilnehmenden in vier Focus Sessions und ein Speed-Dating für junge Architekturbüros mit innovationsbereiten Projektentwicklern aufteilten.

Ich werde Ihnen nicht verraten, wie man mit Erpressern verhandelt

Zum Erfolgsrezept gehört der weite Blick in andere Planungskulturen, der tiefe Blick in Insiderkreise, aber auch der freie Blick in andere Branchen. War die Keynote der Auftaktveranstaltung in den vergangenen Jahren Philosophen vorbehalten, kam bei der diesjährigen Ausgabe mit Linus Neumann ein IT-Spezialist zu Wort. Neumann ist Sprecher des Chaos Computer Club und hat sich als Berufs-Hacker im Dienste der Datensicherheit bei Behörden und Firmen einen Namen gemacht. Bis zu 20 Mio. Euro Lösegeld musste er mit Erpressern verhandeln, die den Zugriff einer Firma auf die eigenen Daten blockiert hatten. Den mit Berliner Schnauze amüsant vorgetragenen, aber inhaltlich bedrohlichen Hackergeschichten hörte selbst der Vertreter des bayerischen Wirtschaftsministeriums aufmerksam zu, das den Kongress im Rahmen der Munich Creative Business Week mcbw seit Jahren fördert.

Auch am folgenden Kongresstag hielten die Keynotespeakers, allesamt Avantgarde Ihrer Zunft, nicht hinter dem Berg mit unerfreulichen oder enttäuschenden Entwicklungen im Bauwesen. Dennoch oder gerade deswegen, war die Stimmung beim Coffee Break, dem Networking Lunch und auch bei den zahlreichen Diskussionsrunden trotzig positiv. Fazit: Wir können jede Krise besser meistern, wenn wir Architekten, Vertreter der Verwaltung, Politik und Immobilienbranche gemeinsam agieren – und dazu müssen wir uns persönlich kennen und uns vertrauen.

Architecture Matters 2024 Lecture Odile DecqFoto: Verena Kathrein
Architecture Matters 2024 Lecture Odile DecqFoto: Verena Kathrein

I love to take risks and I expect from all my partners to take risks

Als Auftakt des Kongresstages elektrisierte die Grand Dame der zeitgenössischen Architektur, die französische Architektin Odile Decq, ihr Publikum mit Ihrer Energie und  den unkonventionellen Bauten, die sie in 46 Jahren selbständiger Arbeit rund um den Globus verwirklicht hat. Ihre Räume und Objekte sorgen in jedem Maßstab für Überraschungen, vom sensorisch gesteuerten Waschbecken eines WCs bis zu den Atrien und Auditorien Ihrer Museen und Bürobauten. „I always take risks, and I expect from all my consultants and clients to take risks“, schmetterte sie dem Plenum entgegen.

Politik wird erst mutig, wenn sie nicht mehr im Amt ist

Die Ergebnisse politischer Entscheidungsfindung sind in den Nachrichtenmedien allgemein zugänglich. Aber wie kommen diese Entscheidungen zustande? Wie laufen politische Prozesse in der Regierung ab, und welchen Chancen auf Umsetzung haben die Reformanträge im Bauministerium? Der Politik-Journalist Michael Bröcker, Chefredakteur bei Table.Media, gab erkenntnisreiche Einblicke in den Berliner Machtapparat. Die Eingangsfrage von Nadin Heinich „Kann man mit Wahrheit Wahlen gewinnen?“ beantwortete er lakonisch mit nein. Sein ernüchterndes Fazit: Der Politik fehlt eine einheitliche Analyse der momentanen Multikrise und: Die Einführung des „Gebäudetyp-e“ in das Baugesetzbuch wird wegen unterschiedlicher Parteiinteressen wohl nicht mehr in dieser Legislaturperiode gelingen, weil unsere Spitzenpolitiker um Schuldenbremse und den Ausbau regenerativer Energien zanken und keine Partei die Lösung der Wohnungskrise auf seiner Prioritätenliste führt. Nicht einmal im Bauministerium hätte das Bauen Priorität. Viele Politiker hätten ja gute und kontroverse Ideen, äußern die aber erst in Talkshows und Interviews, wenn sie nicht mehr selbst im Amt sind. Bröckers Kritik richtete sich aber auch an die im Saal anwesende Bau- und Immobilienbranche: Die Interessenvertretung in Berlin sei zu undurchsichtig und verzweigt. Wenn die Bauministerin ein Anliegen hat, stehen 40 verschiedene Verbände da, die wenig untereinander kommunizieren, geschweige denn mit einer Stimme sprechen. Andere Branchen sind viel strukturierter und damit politisch schlagkräftiger.

In Bayern kann die Politik sehr schnell reagieren

Wo der Bund versagt, gibt es zumindest in Bayern noch zwei Hoffnungen: die bayerische Staatsregierung und die Kommunen. Als Vertretung der angekündigten Ministerialdirektorin Ingrid Simet im Bayerischen Staatsministerium für Wohnen Bau und Verkehr erläuterte Ministerialdirigent Martin Kraus-Vonjahr den umfangreichen Maßnahmenkatalog seiner Behörde gegen die Bau- und Wohnungskrise unter den wesentlichen Handlungsfeldern rechtliche Rahmen anpassen, innovative Ansätze entwickeln, Wohnungsbau fördern. So laufen zurzeit im Freistaat 19 Pilotprojekte zum Gebäudetyp-e. Weitere Modellprojekte zum klimagerechten Städtebau und zum kreislaufgerechten Bauen seinen im Gange, es fehle aber an ausreichenden Mengen an Recyclingmaterial. Gerade beim Neubau gelte es, soziale Fragen der Wohnungsnot mit Fragen des Klimaschutzes abzuwägen, damit nicht die Lösung der einen Krise zur Verschärfung der anderen führt. Zum Thema Überregulierung im Bauwesen steuerte der Jurist wertvolle Fakten bei: von den baurelevanten 3500 DIN-Vorschriften sind nur 300, also ca. 10 Prozent (!), technische Bestimmungen und damit rechtsverbindlich. Die Mehrzahl der Normen ist eine Selbstverpflichtung der Branche und nicht staatlich vorgeschrieben. Um das Bauen zu vereinfachen, arbeiten Ministerium und Architektenkammer gemeinsam an der dringend notwendigen Verschlankung des Regelwerks. Eine Erleichterung zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren sieht Kraus-Vonjahr in der Einführung von Typengenehmigungen für serielles Bauen in Bayern seit 2021. In der anschließenden Focus Session „Umdenken! Einfach, nachhaltig, digital“ sahen Architekten und Vertreter der Architektenkammer jedoch gerade dadurch ihren Berufsstand gefährdet. Nicht durch KI, die durchweg als hilfreiches Digital-Tool geschätzt wird, sondern durch das staatlich geförderte Serielle Bauen werde die baukulturelle Relevanz der Architektentätigkeit infrage gestellt.

Wir benötigen ein Shared Risk Management zwischen Stadt und Entwicklern

In der anschließenden Diskussionsrunde kamen neben Michael Bröcker die Münchner Stadtbaurätin Elisabeth Merk zu Wort sowie die Entwickler Alexander Möll des internationalen Immobilienunternehmens Hines und Jens Böhnlein, Commerz Real.  Die Commerz Real gehört zur Commerzbank und investiert deren Geld langfristig in Immobilienentwicklungen, zum Beispiel seit 2020 in den renommierten Tucherpark mit dem 5 Sterne Hilton Hotel im Englischen Garten, für den ein Kaufpreis von 1,2 Mrd Euro in der Presse spekuliert wurde. Tenor der Runde war, dass selbst im städtebaulichen Maßstab innovative Konzepte umgesetzt werden können, jedoch unter einer Voraussetzung: Die Planungen müssen einen langfristigen Horizont haben, der weit über die Dauer von Wahlperioden hinausreicht. Alle Parteien müssen bereit sein, Risiken einzugehen. Elisabeth Merk forderte ein Shared Risk Management ein, das auch die Risiken der Stadt abfedert. Es könne nicht sein, dass sich die Entwickler und Investoren lediglich mit einem Shared Value Management absichern. „Dass das möglich ist, zeigen Quartiere wie das Werksviertel, in dem wir heute hier sitzen.“ Auf die Kritik der Überregulierung in München, verweist sie wieder nach Berlin: „Wenn wir klare Regeln vom Bund zu einem sozial orientierten Wohnungsbau hätten und jeder sich daran hält, müsste die Landeshauptstadt nicht zusätzliche Instrumente einführen wie die Sozialgerechte Bodennutzung (SoBoN)“, von der sich viele Investoren eingeschränkt fühlen und deshalb nicht bauen.

 

If we do not experiment, we will not evolve

Nach dem Networking Lunch in der mehrgeschossigen Halle  läutete die indische Architektin Anupama Kundoo mit ihrem englischsprachigen Vortrag den Nachmittag kämpferisch ein.

„In times of crisis, business can not go on as usual – isn’t it a good news?“ Veränderung als Chance, verkrustete Strukturen aufzubrechen. Im Gegensatz zu Deutschland hat Indien nicht die Alternative, auf der Stelle stehen zu bleiben. Die größte Demokratie der Welt wächst rasant, Veränderungsprozesse sind weit radikaler und großmaßstäblicher als in Europa und dennoch verblüfft das Werk der Architektin, die aktuell an der TU Berlin als Professorin lehrt. Sie forscht zu traditionellen Bauweisen, natürlichen, vor Ort verfügbaren Baumaterialien wie Bambus oder Lehm und bezieht die lokale Bevölkerung aktiv in ihre Bauten ein. Im vom Kolonialismus als ungelernter Arbeiter degradierten Facharbeiter sieht sie einen Schatz an Wissen und Fähigkeiten, traditionelle nachhaltige Bauweisen zu neuer Anwendung zu bringen.

 

Stairs connect more than stairs

Im Anschluss folgte Kåre Stokholm Poulsgaard des dänischen Architekturbüros 3XN, genauer gesagt dessen Forschungsabteilung GXN. Sein Büro hat den SAP Garden im Münchner Olympiapark entworfen, eine Basketball-und Eishockey Arena für fast 12000 Zuschauer, und plant gemeinsam mit den Rotterdamern OMA die Weiterentwicklung des Werksgeländes von BMW nördlich davon. Im zentralen Atrium des Hauptquartiers des Olympischen Kommitees in Lausanne gestalteten 3XN eine skulpturale Holztreppe wie auseinandergezogene Olympische Ringe, deren Begehung so viele Spass macht und Begegnungen evoziert, dass dort niemand den Aufzug benützt.

Ihre aktuellen Forschungsarbeiten widmen die Dänen unter anderem der Kreislaufwirtschaft im Bauwesen. Ziel ist es, bei einem Umbau oder einer Ertüchtigung so viel Bausubstanz und damit gebundenes CO2 zu erhalten wie möglich. Die Architekten arbeiten eng mit Abrissfirmen zusammen, lassen einzelne Rohbauteile aus dem Tragwerk schneiden, um deren Tragfähigkeit und Potenzial für die neue Nutzung im Labor zu testen. In einem Pre-demolision Audit wird untersucht, welche Teile des Bestands erhalten werden können. Was noch wie Pionierprojekte klingt, ist in der Londoner City bereits Vorschrift. Das wohl renommierteste Projekt ist der 1970 errichtete, 124 Meter hohe Euston Tower, der seit 2021 leer steht. Den digitalen Zwilling des Umbauprojekts mit neuer Fassade haben GXN bereits fertiggestellt.

Architecture Matters 2024: Focus Session 4 Umdenken! Einfach – Nachhaltig – Digital Roundtable mit Doelker& Moderation Frank Kaltenbach
Architecture Matters 2024: Focus Session 4
Umdenken! Einfach – Nachhaltig – Digital Roundtable mit Doelker&
Foto: Verena Kathrein

Focus Sessions und Speed-Dating für junge Architektinnen

Die Keynotes lieferten zahlreiche direkte Anknüpfungspunkte für die vier Focus Sessions zu den Themen Kapitalmarkt, Baustandards, Radical Thinking sowie dem Round Table „Umdenken! Einfach, nachhaltig, digital“. Dieser von Dölker& durchgeführte Roundtable mit einem Impulsvortrag der Architekturprofessorin Anne Niemann lieferte überraschende Ergebnisse: Ausgerechnet der BIM-Verantwortliche der Landesbaudirektion Bayern forderte weniger BIM, sprich anstelle überzogener Standardvorgaben sollten schlanke, maßgeschneiderte Datensätze erstellt werden. Die anwesenden IT Spezialisten von ZHA, Sauerbruch Hutton, KSP Engel und Henning Larsens begrüßten das spontan und kamen in regen Austausch mit den kleineren Planungsbüros und Firmen zu Themen wie ESG, digitale CO2-Bilanzierung und Künstliche Intelligenz im Bauprozess in einen regen Austausch.

 

Passion versus Crisis

Mit einem Kurzbericht der Moderatoren aus den Focus Sessions vor dem Plenum endete der Kongress pünktlich am frühen Abend. Die Mischung der Referenten gab vertiefende Einblicke in die Planungskultur Münchens, Bayerns, des Bundes, aber auch wichtige Anregungen aus der europäischen Nachbarstaaten bis in den Nahen Osten und Indien.

Als Fazit könnte man eines der unzähligen geflügelten Worte des Berufshackers Linus Neumann frei umformulieren: Man kann Krisen und Katastrophen nicht verhindern. Egal ob man von einem Cyberangriff, einer Naturkatastrophe oder einer Baukrise getroffen wird. Wichtig ist es, vorab in einem Netzwerk verschiedene Handlungsszenarien aufgebaut zu haben. Und die nächste Krise kommt bestimmt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer liesen sich durch die Vorträge und Untergangsszenarien nicht einschüchtern. Was viele dachten, brachte Anupama Kundoo auf den Punkt: „ My answer to ‚Crisis versus Crisis‘ is ‚Passion versus Crisis‘!“

Text: Frank Kaltenbach

Fotos: Verena Kathrein