Hippodrom
Donnerstagmorgen, kurz nach sechs. Das Training beginnt immer mit Sonnenaufgang. Der Ort wirkt wie eingeschlafen, nicht nur wegen der frühen Uhrzeit. Von der Tribüne – eine einfach Betonkonstruktion, vereinzelt stehen weiße Plastikstühle herum – blicke ich auf die Rennbahn und die schmalere Trainingsstrecke. Hier ist der Sand tiefer. Dazwischen alte Pinien, die den Bürgerkrieg überlebt haben. Dahinter ragen die Hochhäuser von Beirut empor. Zwei Pferde galoppieren vorbei. Der Trainer schaut aus einem einfachen Unterstand von der Seite aus zu. Ich darf die Zeit stoppen. Das erste Rennen der neuen Saison findet kommenden Sonntag statt. Später zeigt mir George, einer der Besitzer der Rennpferde, die Ställe und stolz die Preise, die er gewonnen hat. In seinem Hauptberuf bildet er Bodyguards aus, unter anderem. Eine reine Männerwelt, beim Training wie beim Rennen.
Zusammen mit dem angrenzenden Park des „Horsh Beirut“ ist das Hippodrom die letzte große freie Fläche mitten in der Stadt. Auf dem 20 Hektar großen Gelände befinden sich neben der Renn- und Trainingstrecke und der Tribüne auch Büros, Stallungen, ein Paddock – hier werden die Pferde vor den Rennen den Zuschauern vorgestellt – sowie die Wettstände. Der Boden gehört der Stadt, während die Rennen und die damit verbundenen Wetten von der gemeinnützigen Organisation Sparca durchgeführt werden. Der Libanon ist das einzige Land in der arabischen Welt, in dem Wetten gesetzlich erlaubt sind. Die Rennen finden je nach Verfügbarkeit der Pferde an etwa drei Sonntagen im Monat statt. Außer im Hochsommer.
Das Hippodrom ist Teil des kollektiven Gedächtnisses von Beirut und ein Symbol für die Geschichte des Libanon – seinen Glamour wie seine Krisen. Es ist einer der wenigen Orte im Land, an dem alle hier vertretenen Konfessionen zusammenkommen, wenn auch mit klarer Unterscheidung: Die Pferdebesitzer sind Christen, die Stallburschen Muslime, die Jockeys gehören meist der Volksgruppe der Dom an. Der diplomierte Ingenieur Nabil Nasrallah begann 1971, im Hippodrom zu arbeiten. Seit 1976 ist er Direktor. Zuvor hatte er u. a. in Karlsruhe studiert.
Pferderennen gab es in Beirut erstmals 1880. Die Stadt gehörte damals noch zum Osmanischen Reich. 1918 finanzierte Alfred Sursock – die Familie Sursock war eine der bedeutendsten Familien Beiruts (siehe Sursock Museum und Sursock Palast) – den Bau des Hippodroms. Zu diesem Projekt gehörte u. a. auch ein Casino, das nach dem Zerfall des multiethnischen Imperiums zunächst Sitz der französischen Mandatsbehörden wurde. Seit der Staatsgründung bis heute ist es Residenz des französischen Botschafters. Das 1921 eröffnete Hippodrom war eine elegante Anlage mit herrschaftlich Tribüne. In den 1960er Jahren avancierte es zu einer der meistbesuchten Rennbahnen der Welt. An 52 Wochen im Jahr fanden zweimal wöchentlich Rennen statt. Der Schah von Persien reiste an, die Herrscherfamilie von Saudi-Arabien, der König von Jordanien. Beirut war das Vergnügungs- und Geschäftszentrum des Nahen Ostens.
Doch der Bürgerkrieg, der folgte, war verheerend. Das Hippodrom lag an der Grünen Linie, die Beirut in einen christlichen und einen muslimischen Sektor teilte. Am 13. Mai 1975 wurde es geschlossen und erst im Frühjahr 1978 wieder für den Rennsport geöffnet. Mit Unterbrechungen fanden während des 15-jährigen Krieges immer wieder Rennen statt. Auch nachdem die israelische Armee 1982 das Hippodrom besetzte und die Tribüne bombardierte, weil sie dort palästinensische Kämpfer vermutete. In einer Rettungsaktion konnten die meisten Rennpferde in die Bekaa-Ebene gebracht werden.
Nach Ende des Bürgerkrieges begann die Stadtverwaltung mit einem ehrgeizigen Wiederaufbauprojekt, strich jedoch später die Mittel. Während die (Bau-)Wirtschaft in Beirut boomte, blieb die Betontribüne von 1992 eine rudimentäre Konstruktion. Die Wirtschaftskrise setzt der Rennbahn ebenso zu wie das illegale Wettgeschäft. Nabil Nasrallah hat Pläne für ein neues Hippodrom ausgearbeitet mit einem weitläufigen Park innerhalb der Rennstrecke, einem Ort für Konzerte und Festivals, mit Restaurants und Cafés. Dazu eine neue, repräsentative Tribüne mit Jockey-Club und klimatisierten VIP-Logen, ein Springparcours und neuen Stallungen. Viele interessieren sich für das Areal. Die Hizbullah möchte hier einen Friedhof für ihre Märtyrer errichten. Andere ein Shoppingcenter oder Luxuswohnungen, das übliche Geschäft. Bislang ist es Nabil Nasrallah immer gelungen diese Interessen abzuwehren – und weiterzumachen.