Seit Wochen versuchen wir, eine Genehmigung für einen Besuch in der Zentrale von Électricité du Liban zu erhalten. Hala ist mit Walid Fayad, dem libanesischen Minister für Energie, gut bekannt, hat ihn einige Tage zuvor angerufen. Fayad wiederum sprach mit Kamal Hayek, dem Geschäftsführer von ÉDL. „Everything should be fine …“ Eine Genehmigung haben wir trotzdem nicht. Es ist Freitagmorgen. Am Montag fliegen wir zurück. Niemand arbeitet am Wochenende. Zu dritt fahren wir zu ÉDL. Nein sie können uns nicht hineinlassen. Der Mann am Eingang des Geländes – weil die Explosion im Hafen das Hochhaus zerstört hat, arbeiten fast alle in provisorischen Containern – ist freundlich, aber resolut. Noch einmal ruft Hala Fayad an, reicht das Telefon weiter. Der Mann am Eingang lehnt ab, nimmt das Gespräch dann doch an. „Qui, monsieur le docteur … qui … bien sûre …“ Wir dürfen passieren.
Das Innere des Gebäudes ist völlig verwüstet. Im Erdgeschoss laufen dennoch beständig Menschen hin und her, verschwinden über die Treppe in den Keller. Irgendwo klingelt ein Telefon. Wir nehmen den Aufzug – einer der vier funktioniert wieder – und halten im dritten Stock. Inmitten der Trümmer, in einem der unzähligen Räume, arbeitet ein junger Mann. Der Blick aus seinem Fenster fällt direkt auf die Reste des Silos im Hafen. Eine Maschine surrt, druckt die ganze Zeit irgendetwas aus. „What are you doing?“ „Printing electricity bills.“
Der Aufzug fährt in den 13. Stock. Von hier aus erschließt sich das ganze Ausmaß der Zerstörung im Hafen. „Wird das Gebäude irgendwann wieder instand gesetzt?“ „Vielleicht.“
Die Zentrale der staatlichen libanesischen Elektrizitätsgesellschaft Electricité du Liban (ÉDL) liegt im Zentrum des Stadtviertels Mar Mikhaël. Direkt hinter dem Getreidesilo am Hafen, zwischen der Küstenautobahn und der höher gelegenen Armeniastraße, erstreckt sich das Hochhaus über 14 Etagen. Das Beiruter Architekturbüro Centre d’Etudes Techniques et Architecturales CETA gewann 1965 den von der ÉDL ausgeschriebenen Wettbewerb. Die Elektrizitätsgesellschaft wünschte sich ein Gebäude, das den städtischen Kontext aufnimmt, öffentliche Grünflächen und eine Verbindung zum Meer schafft – ein Symbol für die „Goldenen 60er“, für ein modernes, aufstrebendes Land mit boomender Wirtschaft. Beirut war einer der wichtigsten Bankenstandorte im Nahen Osten.
Große Piloti tragen das Gebäudevolumen. Sie schaffen im Untergeschoss Raum für ein großzügiges Kundencenter mit angeschlossener Piazza, die über eine Treppe mit der Armeniastraße verbunden ist. Von hier aus gelangen die Mitarbeiter auch auf die Gartenterrasse. Sonnenschutzelementen verschatten die nach Süden, zur Stadt gerichtete Fassade. Im Erdgeschoss spielerisch angeordnet, wiederholen sie sich darüber nach einem festen Muster.
Nadin Heinich: Wie zahlen die Leute jetzt ihre Stromrechnung? In bar?
Ziad Younes: Sie zahlen bar und in Lira.
Nadin Heinich: Warum stellt Ihr die Rechnungen nicht in Dollar aus?
Ziad Younes: Weil das gesetzlich nicht möglich ist. Selbst wenn wir in Dollar abrechnen würden, wie hoch soll der Wechselkurs sein?
Nadin Heinich: Eins zu 100.000 …
Ziad Younes: Sagt wer? Es gibt keinen offiziellen Umrechnungskurs, stattdessen eins zu 1.500, eins zu 15.000, wir haben den Umrechnungskurs der Sayrafah-Plattform, Sayrafah-Plus, Sayrafah-Minus, den Lollar. Und es gibt den Schwarzmarkt-Kurs, der unseren Alltag bestimmt, entsprechend dem wir im Laden einkaufen. Jedoch existiert keine offizielle Institution, die den letztgenannten Kurs festlegt. Die Regierung, auch Électricité du Liban (EDL) als öffentliche Einrichtung, können diesen Kurs nicht verwenden. Woran sollen wir uns orientieren, an irgendwelchen Handy-Apps, die den Schwarzmarkt-Wechselkurs Lira – Dollar anzeigen?
Nadin Heinich: Die Zentralbank …
Ziad Younes: Die Zentralbank unter ihrem langjährigen Vorsitzenden Riad Salameh hat sich geweigert, etwas anderes als eins zu 1.500, danach eins zu 15.000 anzuerkennen. Sie haben die Sayrafa-Plattform erfunden. Der Sayrafa-Kurs, zu dem die Zentralbank internationale Kredit- und Debitkartenzahlungen einlöst, liegt etwas unter dem realen Kurs. Vereinfacht gesprochen, dient das nur dazu, den Einlegern bei der Zentralbank Geld zu stehlen. Es scheint jedoch, dass die neue Regierung Sayrafah geschlossen und entschieden hat, zu einer von Bloomberg betriebenen Plattform zu wechseln. Das könnte Dinge lösen … Um auf die eigentliche Frage zurückzukommen: Ja, wir sammeln die Stromgebühren in libanesische Lira ein. Hunderte, Millionen von Lira.
Nadin Heinich: Ihr braucht doch Lastwagen, um das Geld zu transportieren …
Ziad Younes: Ja. Wir versuchen, das Geld zu den Banken zu bringen … die es nicht annehmen wollen. Sie haben keine Leute, die das Geld zählen können. Und selbst wenn wir dieses Geld zur Zentralbank bringen, ist die EDL nicht in der Lage, libanesische Lira in US-Dollar umzutauschen. Die EDL ist heute sehr reich an Bargeld … an libanesischen Liras.
Nadin Heinich: Warum tauscht die Zentralbank die Lira nicht in Dollar?
Ziad Younes: Weil es dafür keinen Markt gibt. Auch behauptet die Zentralbank, zum Umtausch sei sie nicht verpflichtet. Die EDL kann mit dem eingenommenen Geld keinen Treibstoff kaufen. Das ist einer der Gründe, weshalb das Unternehmen nur ein paar Stunden Strom pro Tag liefert.
Nadin Heinich: Warum kann EDL mit dem Bargeld keinen Treibstoff kaufen?
Ziad Younes: Weil sie über Bargeld in Lira verfügen. Der Treibstoff wird jedoch in Dollar bezahlt. Glaubst Du, Kuwait Energy verkauft für Lira?
Nadin Heinich: Wie werdet Ihr bezahlt?
Ziad Younes: Wir werden nicht bezahlt. Nur zu einem sehr, sehr geringen Anteil. Deswegen müssen wir unsere Arbeiten auf das Notwendigste beschränken, durch andere Projekte querfinanzieren, hoffen, dass wir eines Tages doch bezahlt werden. Jeder hat ein Kreuz zu tragen. Das ist meines. Es ist ein sehr schweres Kreuz.
Nadin Heinich: Warum werdet Ihr nicht von den Stromgebühren bezahlt, die Ihr einsammelt? EDL lagert dieses Geld doch nur.
Ziad Younes: Das ist gegen das Gesetz. Die Stromgebühren sind öffentliche Gelder. Wir wurden damit betraut, sie einzusammeln und abzuführen.
Nadin Heinich: Ist Électricité du Liban ein Spiegel für die Situation des Landes, für seine Absurdität?
Ziad Younes: EDL ist ein Symptom für das politische System des Landes. Ein sehr ineffizientes System. In der Spieltheorie würde man vom „Gefangenendilemma“ sprechen – vereinfacht beschrieben, eine Situation, in der zwei rational handelnde Individuen, obwohl sie beide durch Zusammenarbeit einen gemeinsamen Nutzen erzielen könnten, stattdessen ihre eigenen Interessen verfolgen. Das führt zu einem schlechteren Ergebnis für beide. Aber niemand ändert etwas daran.
Nadin Heinich: Was ist der Ausweg?
Ziad Younes: Ein System zu schaffen, in dem Entscheidungsfindungen möglich sind. Dazu bräuchten wir einen säkularen Staat mit zentraler Exekutivgewalt, die sich natürlich von Zeit zu Zeit ändern müsste. Heute hat niemand die Macht, Entscheidungen zu treffen. Wir haben mehrere Machtzentren, die sich gegenseitig aufheben.
Zur Person:
Ziad Younes ist Vorstandsvorsitzender von BUTEC, „Bureau Technique d’Etudes et de Construction“ oder Büro für Ingenieurwesen und Bau. Das Bauunternehmen wurde 1964 in Beirut gegründet und zählt heute zu den führenden Akteuren im Nahen Osten, den Golfstaaten und Nordafrika. Younes ist Gründungsmitglied des Massachusetts Institute of Technology Enterprise Forum for the Pan Arab Region, hält regelmäßig Vorträge und veröffentlicht in führenden akademischen Fachzeitschriften. Er ist Absolvent der Ecole Polytechnique in Frankreich und hat einen Master of Science in Technology and Policy vom Massachusetts Institute of Technology sowie einen DEA (Diplôme d’études approfondies) in Industrial Organization von der Universität Paris IX-Dauphine.
BUTEC ist eines der Unternehmen, die für die Wartung des libanesischen Stromnetzes verantwortlich sind. www.butec.com