Nadin Heinich: Seit 2019 ist der libanesische Staat bankrott. Die öffentliche Verwaltung arbeitet nur noch sehr eingeschränkt. Welche Auswirkungen hat das auf Deine Arbeit als Architektin?
Hala Younes: Mit der Krise hat die nationale Währung inzwischen 90 Prozent ihres Wertes verloren. Während die Gehälter in der Privatwirtschaft seit 2019 in Dollar bezahlt werden, blieb es im öffentlichen Sektor bei libanesischen Lira, wurden die Gehälter kaum angepasst. Insgesamt gab es keine nennenswerten Reformen. Angestellte im öffentlichen Dienst können von ihrem Gehalt nicht mehr leben. Die meisten Verwaltungen tolerieren daher, dass sie nur zwei Tage pro Woche arbeiten und die restliche Zeit einer anderen Beschäftigung nachgehen. Regelmäßig kommt es zudem zu Streiks. Dann funktioniert überhaupt nichts mehr.
Es ist kaum noch möglich, Baugenehmigungen zu beantragen. Denn dafür muss man eine Reihe von Dokumenten bei den örtlichen Behörden einholen, wie zum Beispiel den Katastereintrag des Grundstücks. Für bestimmte Dienstleistungen kann man zusätzlich bezahlen, doch in manchen Fällen funktioniert auch das nicht.
Nadin Heinich: Wie war es vor der Krise?
Hala Younes: Natürlich gibt es auch bei uns eine Bauordnung. Zunächst wird ein Projekt zur Prüfung bei der Ingenieurkammer vorgelegt. Sie erhebt eine Gebühr entsprechend der geplanten Zahl der Quadratmeter. Mit diesem Geld finanziert sie die Krankenversicherung und die Rente aller Ingenieure. Anschließend prüft die im jeweiligen Gebiet zuständige Direktion für Städtebau das Bauvorhaben. Sie erhebt ebenfalls eine Gebühr, dieses Mal für die Gemeinde. Danach kann der Bau beginnen. Stimmt ein Gebäude mit der eingereichten Genehmigung überein, erhält man nach Fertigstellung eine sogenannte Konformitätsbescheinigung. Man kann das Gebäude nutzen, öffentliche Dienstleistungen wie Wasser und Strom in Anspruch nehmen. Nur funktionieren diese Dinge nicht mehr, diese letzte Bescheinigung ist nicht mehr so wichtig …
Nadin Heinich: Wie kommt man dann an Strom und Wasser?
Hala Younes: Auf dem Land gibt es jetzt keinen öffentlichen Strom. Früher hatten Baustellen einen provisorischen Anschluss. Dieser wurde einfach weiter genutzt. Und durch die Brunnen und andere private Wasserquellen ist in vielen Gegenden eine öffentliche Wasserversorgung nicht notwendig. Auf dem Land finden auch kaum Kontrollen statt. Anders in den großen Städten. Doch selbst wenn man sich da nicht an die Genehmigung hält, zahlt man einfach eine Gebühr für die zusätzlichen Quadratmeter – oft um das Dreifache höher als der ursprüngliche Betrag – und kann bauen, was man möchte.
Die Gesetze dienen nicht dem Wohl der Allgemeinheit, sondern ermöglichen denjenigen, die Genehmigungen erteilen, von ihrer Macht zu profitieren. Die gesamte Regulierung des Bauens ist tatsächlich ein System der Ausnahmen. In Wirklichkeit tut niemand das, was er entsprechend dem Gesetz tun sollte. Es gibt immer die Möglichkeit, Ausnahmen zu beantragen und für diese Ausnahmen zu bezahlen.
Nadin Heinich: In welchem Umfang gibt es Stadtplanung im Libanon?
Hala Younes: Aufgrund unserer Verfassung ist standardmäßig jedes Grundstück bebaubar. Es sei denn, es gibt einen Bebauungsplan, der das Bauen verbietet oder einschränkt. Etwa 40 Prozent (vielleicht 60 %) des Territoriums sind durch Bebauungspläne geregelt. Ein großer Teil des Libanon nicht – in diesen Gebieten können bis zu 50 Prozent der Fläche bebaut werden. Das vorhandene Regelwerk ist sehr einfach. Es geht vor allem um die maximale Zahl der Quadratmeter, die man bauen darf, immer bezogen auf das Grundstück, nie auf die Stadt. Es gibt auch Vorschriften, die auf den jeweiligen Kontext Bezug nehmen, also Stadtzentrum, ländliche Region, Hanglage etc. Eine wirkliche architektonische Qualität erzeugen sie nicht.
Der Wert eines Grundstücks definiert sich über die Anzahl der Quadratmeter, die man darauf bauen kann. Diese Eindimensionalität macht eine effektive Planung sehr schwierig. Sobald eine Behörde verkündet, dass in einem Gebiet aus Gründen des Gemeinwohls, weil dort zum Beispiel ein schöner Wald wächst, nicht oder weniger gebaut werden darf, werden sofort alle Besitzer von Grund und Boden sehr hartnäckig Lobbyarbeit betreiben, um diese Planung zu verhindern. Und selbst wenn sie eine Genehmigung für eine geringere Quadratmeterzahl erhalten, können sie mehr bauen, weil niemand sie kontrolliert. Traditionell haben die Libanesen ihr gesamtes Geld in Land und Immobilien investiert, auch wenn sie es in den letzten Jahren wegen der hohen Zinsen zunehmend bei Banken anlegten. Es war sehr interessant, Land zu kaufen, weil man es in zwei oder drei Jahren wieder verkaufen konnte und auf den Gewinn keine Steuern zahlen musste.
Nadin Heinich: Ist irgendwo geregelt, dass Projektentwickler, wenn sie eine bestimmte Anzahl von Wohnungen bauen, auch eine Schule, einen Kindergarten oder eine andere Einrichtung für das Gemeinwohl bauen oder zumindest eine Abgabe dafür entrichten müssen?
Hala Younes: Die Gesetze beziehen sich nie auf das Quartier oder die städtische Ebene, sondern immer nur auf das Grundstück. Für die Schulen sind der Staat, das Bildungsministerium und die Gemeinden zuständig. Ein Projektentwickler würde niemals eine Schule bauen oder finanzieren.
Nadin Heinich: Was waren die Hauptgründe für den Bau von Wohnungen, der tatsächliche Bedarf an Wohnraum? Gibt es im Libanon so etwas wie sozialen Wohnungsbau?
Hala Younes: In den 60er Jahren wurden einige wenige Sozialwohnungen gebaut. Die Versorgung mit Wohnraum regelt hauptsächlich der freie Markt. Ein Teil der Gebäude entstand durch Privatpersonen: Jemand hatte ein Grundstück, dazu einen Kredit von der Bank und errichtete so ein drei- oder vierstöckiges Gebäude. Professionelle Projektentwickler bauten dort, wo sie glaubten, dass sie die Wohnungen würden verkaufen können. Sie setzten einen bestimmten Preis fest und warteten, mussten nicht gleich verkaufen. Gebäude konnte jahrelang leer stehen und trotzdem im Wert steigen.
Nadin Heinich: Ist die Mehrheit der Libanesen Mieter oder Eigentümer von Wohnungen?
Hala Younes: Vor dem Bürgerkrieg wohnte die Mehrzahl der Menschen zur Miete. Die Wohnungen gehörten nicht dem Staat, sondern waren überwiegend im privaten Besitz. Während des Krieges wurden Mieterhöhungen gesetzlich verboten. Das war wichtig zum Schutz der Menschen. Auch nach Ende des Bürgerkrieges galten diese „alten Mieten“ zunächst weiter. Die Hausbesitzer waren jedoch immer weniger in der Lage, ihre Gebäude instand zu halten. So wurde schließlich ein Gesetz erlassen, das erlaubte, die Mieten alle drei Jahre anzuheben. Mit wenigen Einschränkungen. Meiner Meinung nach wäre es fair gewesen, beide Seiten, Mieter und Eigentümer, an den zwischen 1975 und 2000 astronomisch gestiegenen Grundstücks- und Immobilienpreisen zu beteiligen, den Mietern die Möglichkeit zu geben, die Wohnung zu einem reduzierten Preis zu kaufen. So jedoch wurde Mieten unkalkulierbar. Die Menschen wollten ihre Wohnungen kaufen. Die Zentralbank führte dafür zinslosen Darlehen ein. Diese subventionierten Darlehen kurbelten den Immobilienmarkt zusätzlich an. Die Bauträger wussten, dass jeder Angestellte mit einem Minimum an Stabilität eine Wohnung kaufen konnte. Zunehmend kauften auch Menschen aus der Diaspora Wohnungen. Das war eine gute Geldanlage, der Wert stieg stetig. Viele Wohnungen in den zentralen Bezirken von Beirut wurden spekulativ gebaut – und blieben leer. Beirut ist wie ein Schwamm.
Nadin Heinich: Gab es trotz der hohen Bautätigkeit einen Mangel an bezahlbaren Wohnungen?
Hala Younes: Ja, Beirut war teuer. Die Menschen sind aus dem Zentrum weg- und in die Außenbezirke gezogen. Da es kaum öffentlichen Verkehrsmittel gab, nahm der Autoverkehr immer weiter zu. Es gab auch günstige Kredite für Autos.
Nadin Heinich: Wie ist die Situation heute?
Hala Younes: Mit der Krise 2019 kam der Immobilienmarkt zum Stillstand. Bereits ab 2017 stellte die Zentralbank die subventionierten Kredite ein, verlangsamte sich der Markt. Mit der Einführung der Kapitalverkehrskontrollen wurde ein großer Teil der Ersparnisse bei libanesischen Banken eingefroren. Aus Dollar wurden „Lollar“, man konnte sie nicht mehr direkt abheben (vergleiche Interview mit Patrick Mardini S. xxx). Man konnte dieses Geld jedoch zunächst noch in Immobilien investieren. Die Banken tauschten, vereinfacht gesprochen, die Kredite, die sie an Projektentwickler vergeben hatten, gegen die Sparguthaben. Diejenigen, die schnell genug reagierten, konnte so Wohnungen kaufen. Zudem hatten viele Privatleute im Laufe der Jahre Kredite aufgenommen, die sie weiterhin in Lira abbezahlen konnten. Sie profitierten zu Beginn von der Krise, denn mit der schnellen Abwertung der Lira verloren auch diese Kredite ihren Wert. Die Banken, die mit ihren „finanztechnischen Operationen“ zur Krise beigetragen hatten, verloren dabei sehr viel Geld.
Aber wer hat dafür wirklich bezahlt? Der Staat, der bankrott ging, und die Menschen, die keine Kredite bekamen, weil sie sich keine leisten konnten, die sich nicht einmal ein Bankkonto leisten konnten. Die ärmsten Menschen im Land!
Nadin Heinich: Was sind die Aufgaben der Architekten von heute? Vor der Krise zog Beirut viele der international bekannten Stars an.
Hala Younes: Viele Architekten waren auch Bauherren.
Nadin Heinich: Haben sie jemals gefragt, woher das Geld stammt, ob das ganze System nachhaltig ist?
Hala Younes: Niemand hat gefragt. Die Leute legten ihr Geld zu einem Zinssatz von 13 Prozent an, es war einfach interessant. Dabei war die Qualität der Bauten von Projektentwicklern meist sehr schlecht. Ich habe nie für Bauträger gearbeitet. Man musste ein internationaler Star sein und für seinen Namen bezahlt werden. Nur dann hatte man die Macht, eine gewisse Qualität durchzusetzen.
Mit der Krise verließen viele das Land. Wenn sie bleiben, arbeiten Architekten häufig für die Golfregion. Länder wie Saudi-Arabien boomen. Junge Leute arbeiten manchmal online für internationale Büros oder gehen nach Europa.
Nadin Heinich: Siehst Du auch ein positives Ergebnis der Krise?
Hala Younes: Nein. Ein positives Ergebnis wäre gewesen, wenn wir erkannt hätten, dass Land nicht nur zur Spekulation da ist, sondern dass Land produktiv sein muss. Die Krise hat den Mythos zerstört, dass die Bodenpreise im Libanon niemals sinken. Ein wirkliches Umdenken hat dennoch nicht stattgefunden. Viele Menschen sind so viel ärmer geworden – wir hätten anfangen können nachzudenken, ob wir wirklich überall bauen, die weiten Wege zwischen Arbeits- und Wohnort in Kauf nehmen sollten. Wie wir endlich gute öffentliche Verkehrsmittel schaffen. Jedoch sind nicht nur die Banken und die Wirtschaft zusammengebrochen, sondern auch der Staat. Es ist niemand mehr da, der Entscheidungen trifft.
Zur Person:
Hala Younes ist Architektin und Geografin. Seit 1995 führt sie ihr eigenes Architekturbüro in Beirut. Nach Lehrtätigkeiten an der École d’Architecture Marne-la-Vallée in Paris und verschiedenen Hochschulen im Libanon unterrichtet sie derzeit an der Lebanese American University. 2018 initiierte sie den ersten libanesischen Pavillon auf der Architekturbiennale in Venedig. Unter dem Titel „The Place that Remains“ setzte die Ausstellung sich kritisch mit der Kommerzialisierung von Land im Libanon auseinander.