Nadin Heinich: In den vergangenen Monaten konnten wir regelmäßig von Insolvenzen von Projektentwicklern lesen. Was macht die aktuelle Situation in der Immobilienbranche so anspruchsvoll?
Ulrich Höller: Die Immobilienbranche befindet sich in der schwersten Krise der letzten Jahrzehnte, weil verschiedene Entwicklungen kumulieren: Auf der einen Seite rasant gestiegene Bau- und Finanzierungskosten. Dazu kommen die Herausforderungen des Klimaschutzes. Unsere Branche ist einer der Hauptverursacher der hohen CO2-Emissionen – und damit wesentlicher Bestandteil der Lösung. Die Nutzung von Büros verändert sich, wir beschäftigen uns intensiv mit Homeoffice und New Work. Die beiden letztgenannten Themen bedeuten, vereinfacht gesagt, auf jeden Fall höhere Kosten.
Wir hatten immer wieder Krisen. Wir sind Wandel gewohnt. Neu sind die extremen Herausforderungen, die aus dem schnellen Zinsanstieg resultieren. Die Geschwindigkeit ist deswegen so gravierend, weil wir eine trägere Branche sind. Unsere Produkte sind immobil. Wir können nicht, wie etwa in der Automobilindustrie, die Bänder stoppen. Wir stecken mitten in Projekten, in jahrelangen Prozessen. Der rasante Anstieg der Zinsen hat einen doppelten Effekt: Einerseits spürbare Finanzierungskosten, die es in den vergangenen Jahren nicht mehr gegeben hat. Andererseits Auswirkungen auf die Anlagestrategien des Kapitals. Übersetzt heißt das: Stark sinkende Preise in kürzester Zeit. Das dramatische Problem vieler Developer ist, dass diese beiden Entwicklungen zusammentreffen: Steigende Kosten, die häufiger heute schon mögliche zukünftige Preise übersteigen.
Nadin Heinich: Können Sie die Auswirkungen höherer Zinsen näher erläutern?
Ulrich Höller: Ich versuche mal einen komplexen Sachverhalt ganz simpel runterzubrechen: Kapital sucht nach Rendite. Wenn die Zinsen insgesamt niedrig sind, passen sich die Preise daran an. Wenn sie bei der Bank nur 1% für einen Kredit zahlen müssen oder Anleiheprojekte nur entsprechende geringe Renditen versprechen, sind Investoren im Vergleich mit 3% Rendite zufrieden. Ihr Geld wird gut verzinst, auch über dem, was sie an Fremdzins aufnehmen müssen. Erwartet der Investor 3% Rendite von einer Immobilie, kann ich diese zum etwa 33-fachen der Jahresmiete verkaufen. Wenn der Investor hingegen eine Rendite von 5% erwartet, beträgt der Verkaufserlös nur noch das Zwanzigfache.
Bei einem Objekt mit einer Jahresmiete von fünf Millionen Euro würde das für mein einfaches Beispiel bedeuten: Bei einer Renditeerwartung von 3% hat es über 150 Millionen Euro gekostet. Jetzt kann ich ggfs. nur noch für 100 Millionen Euro verkaufen. Projektentwickler verdienen an so einem Projekt, wenn es sehr gut läuft, 10 bis 20 Prozent. Wir können es verkraften, wenn ein Objekt mal 15 Prozent weniger einbringt. Dann haben wir nichts verdient. Wenn es jedoch 30 oder 40 Prozent weniger wert ist, bedeutet das Kapitalverlust. Das erste Kapital, das immer verloren geht, ist das Eigenkapital. Dazu kommt, dass die gegebenenfalls finanzierende Bank auch von einem Wert von 150 Millionen Euro ausgegangen ist. Sinkt der Wert der Immobilie, muss entweder der Kredit zurückgezahlt oder Eigenkapital nachgeschossen werden. Banken unterliegen der Regulierung. Das ist der aktuelle, toxische Markt. Deshalb hört man von Projektentwicklerpleiten, aber auch die Bestandsinvestoren sind zunehmend von diesem Problem betroffen.
Nadin Heinich: Was ist dann der „wahre Wert“ einer Immobilie?
Ulrich Höller: Die Wahrheit liegt, wie der Fußballer sagt, „auf dem Platz“. In unserer Branche bedeutet das, wenn der Verkaufsprozess stattfindet und damit der aktuelle Marktwert verifiziert wird. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Wenn ich vor dem Ukrainekrieg verkauft hätte, hätte ich wahrscheinlich 150 Millionen Euro bekommen. Wenn ich jetzt verkaufe, ggfs. nur noch 100 Millionen. Die Frage ist: Wann kann oder muss ich verkaufen? Wenn die Bank heute den Kredit fällig stellt, ist dies das Hier und Jetzt. Wenn ich es schaffe, wieder in eine bessere Marktphase zu kommen und dann ggfs. für 130 Millionen verkaufen kann, ist das die „Wahrheit“. Es gibt also den tatsächlichen Realisierungswert, Papierwerte sowie zusätzlich die Schätzwerte. Manche Gutachter bewerten aufgrund der Volatilitäten dieselbe Immobilie mit 110 Millionen Euro, andere gehen bei gleichen Voraussetzungen z. B. von 117 Millionen aus.
Nadin Heinich: Insgesamt wird dem Immobilienmarkt derzeit viel Geld entzogen …
Ulrich Höller: Geld ist ein scheues Reh. So dürften viele Pensionskassen mit ihren Immobilien viel Geld verlieren, wenn sie diese jetzt verkaufen würden. Gleichzeitig müssen sie weiterhin Geld anlegen und Zinsen erwirtschaften, um ihre Renten bedienen zu können. Das ist ihr treuhänderischer Auftrag. Die Immobilie ist zwar eine sehr wichtige, aber eben auch nur eine von vielen Anlageklassen …
Nadin Heinich: Jetzt können Pensionskassen das Geld einfach auf dem Bankkonto liegen lassen und 4% Rendite erwirtschaften.
Ulrich Höller: Zum Beispiel. Oder sie investieren wieder in Aktien oder Staatsanleihen. Immobilien müssten jetzt über 5% bringen, weil der Zins bei um die 4% liegt. Aber für 5% verkauft im Moment kaum jemand. Es gibt wenige Produkte auf dem Markt, die Märkte sind gerade inaktiv. Eine positive Entwicklung ist, dass viele institutionelle Anleger, die in Immobilie investiert haben, sich mit dieser Branche vertraut gemacht haben. Immobilien sind heute eine viel größere Anlageklasse als noch vor 20 Jahren.
Nadin Heinich: Wie geht es jetzt weiter? Haben wir die Talsohle erreicht?
Ulrich Höller: Noch nicht. Das Krisenbewusstsein ist in der Branche voll angekommen. Das Schönreden ist vorbei. Emotional sind wir bereits auf dem Tiefpunkt. Ich erwarte jedoch eine Marktbereinigung bis in das Jahr 2025 hinein. Wichtig ist, dass der Transaktionsmarkt und damit das Vertrauen zurückkehren. Dies geschieht nur, wenn die Preise angepasst werden. Immobilien bleiben eine spannende Assetklasse. Sie werden bald wieder im Fokus der Anleger stehen – auf wahrscheinlich verändertem Renditeniveau. Dann läuft es immer gleich ab: Wenn wieder Transaktionen stattfinden, steigt die Nachfrage. Damit steigen auch die Preise. Wie stark, hängt neben dem emotionalen Markt Momentum immanent vom Zinsniveau ab.
Nadin Heinich: Gibt es einen Vertrauensverlust gegenüber der Immobilienbranche, zum Beispiel von Seiten der Banken?
Ulrich Höller: Ich glaube, es gibt einen Vertrauensverlust in das Produkt Immobilie vor allem bei den Mezzanine-Kapitalgebern, nicht bei den immobilienerfahrenen Banken. Mezzanine-Kapital ist eine Mischform zwischen Eigen- und Fremdkapital. Im Insolvenzfall wird es vor dem Eigenkapital, jedoch nach dem klassischen Fremdkapital bedient. Dieses Risiko wird entsprechend eingepreist. Von den verschiedenen Kapitalarten ist Eigenkapital immer das am höchsten verzinste. Bei einer Projektentwicklung werden rund 15% Gewinn erwartet. Gleichzeitig ist der Eigenkapitalgeber bzw. Projektentwickler der Erste, der verliert. Daher die höhere Verzinsung. Mezzanine-Lender erwarten heute über 10%, die Bank derzeit über 4%.
Die Klasse der Mezzanine-Kapitalgeber war ein neues Phänomen auf dem deutschen Immobilienmarkt der letzten zehn Jahre. Viele haben wegen der hohen Renditechancen investiert. Jetzt merken sie plötzlich, wie volatil das sein kann, haben Geld verloren. Ich würde das nicht als grundsätzlichen Vertrauensverlust bezeichnen, sondern als gewonnene Einsicht in das Risiko, das auch in Immobilien stecken kann.
Nadin Heinich: Trotzdem kommen bestimmte Personen, die in der Branche einen sehr zweifelhaften Ruf haben, immer wieder zurück. Sie werden sogar in Talkshows des öffentlich-rechtlichen Fernsehens eingeladen …
Ulrich Höller: Immobilien sind ein Multimilliardengeschäft. In Boomzeiten zieht das traditionell alle möglichen Marktteilnehmer an. Diese sind vor allem von Kapital und Struktur getrieben, ihre Präsenz treibt die Preise in die Höhe. Das eigentliche Planen und Bauen ist für sie sekundär, es geht mehr um das Finanzprodukt. Eine Art Spekulationsgeschäft, auch von Gier bestimmt. Die Gefahr für diese Marktteilnehmer ist nur – das sieht man jetzt an der einen oder anderen Pleite –, den Exit zu verpassen, weil sie über wenig inhaltliche Immobilienkompetenz verfügen. Sie machen es uns Etablierten schwer. Wir sind oft nicht bereit, deren Risiken einzugehen. Ich bin jetzt 32 Jahre dabei, habe das immer wieder erlebt. Die nüchterne Erkenntnis ist: Das wird auch in Zukunft wieder passieren.
Nadin Heinich: Wie viel internationales Kapital fließt derzeit in den deutschen Immobilienmarkt? In einem Interview sagten Sie, Deutschland werde nicht mehr als sicherer Hafen wahrgenommen.
Ulrich Höller: Absolut nicht. Normalerweise kommt dennoch jetzt wieder die Zeit, in der internationales Kapital eine größere Rolle spielt. Warum? Es verzinst sich traditionell höher als deutsches. Das ist die Private Equity-Denkweise, privates Beteiligungskapital, das gern in Firmen in Not investiert. Im Immobilienmarkt findet gerade eine Bereinigung statt. Das ist disruptiv, es eröffnen sich Chancen zum Investieren. Diese internationalen Player stehen bereits an der Seitenlinie, mit einem skeptischeren Blick auf Deutschland als etwa nach der Finanzkrise 2008. Aber Sie erwarten, dass Deutschland sich restrukturiert und mittelfristig aus der Talsohle kommt.
Mit der sozialen Marktwirtschaft haben wir nach wie vor eine der besten Wirtschaftsordnungen. Jedoch ist bei uns vieles überreguliert! Die aktuellen Finanzierungskosten sind historisch gesehen nicht ungewöhnlich hoch, der Leitzins bei Null war unnormal. Durch den langen Boom waren die Grundstücke zu teuer, auch diese Preise werden sinken. Dennoch: Bauen ist heute doppelt so kostenintensiv wie vor zehn Jahren, die Mieten hingegen nur unwesentlich höher. Das gilt für Wohnen wie Gewerbe. Ohne steigende Mieten, die ich allerdings erwarte und auch bereits wahrnehme, oder finanzielle Anreize durch die Politik wird es nicht gehen. Niemand wird bauen.
Nadin Heinich: Welche Maßnahmen braucht die Branche? Wie lassen sie sich durchsetzen?
Ulrich Höller: Ein Grundsatz lautet: „Worst first!“ Zuerst die schlechten Dinge verbessern, statt die guten noch besser machen. In den vergangenen Jahren wurden die Anforderungen unter anderem an den Klimaschutz immer weiter verschärft. Selbst die Bundesbauministerin hat eingeräumt, dass bei einem verpflichtenden KfW-Effizienzhaus 40-Standard derzeit gar nicht mehr gebaut würde. Wir müssen an einigen Stelle sogar zurückgehen, einfacher werden. Und wir müssen unsere Baugenehmigungsverfahren deutlich vereinfachen und verschlanken, die Digitalisierung muss stärker Einzug halten. Aber hier hat sich unsere Bauministerin Klara Geynitz hohe Ziele gesetzt, ich bin gespannt und hoffnungsfroh.
Zur Person:
Ulrich Höller ist Geschäftsführender Gesellschafter der ABG Real Estate Group. Der Betriebswirt, Immobilienökonom und Fellow of the Royal Institution of Chartered Surveyors (FRICS) ist in der Branche seit über 30 Jahren in bedeutenden Führungspositionen aktiv. Bereits in jungen Jahren agierte er zunächst als Geschäftsführer einer bundesweit aktiven Projektentwicklungsgruppe und war anschließend 15 Jahre lang Vorsitzender des Vorstands der börsennotierten DIC Asset AG. Ab 2015 baute er als Vorsitzender des Vorstands die GEG German Estate Group AG zu einer der führenden deutschen Investment- und Asset-Management-Plattformen im gewerblichen Immobilienbereich auf. Er verantwortete in seiner Karriere bundesweit herausragende Projekt- und Quartiersentwicklungen sowie spektakuläre Landmark-Projekte. Darüber hinaus ist seine Expertise in mehreren Aufsichtsrats- und Beiratsgremien der Branche gefragt, er ist auch Vorstand und Vizepräsident des deutschen Immobilienverbandes ZIA und Mitglied des Executive Committees des Urban Land Institute (ULI).
Im Jahr 2009 zeichnete das Urban Land Institute Höller mit dem ULI Germany Leadership Award aus. 2012 erhielt er mit der DIC in Cannes den MIPIM Award für die Entwicklung des MainTor-Quartiers in Frankfurt. 2013 wählte die Jury des Fachmagazins Immobilienwirtschaft Höller zum Immobilienkopf des Jahres.